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Szenario Pandemie

Gefühlte und reale Risiken driften oft auseinander

Handeln und Lebensqualität von Menschen werden erheblich davon bestimmt, wie sicher oder gefährdet sie sich fühlen. Oft stimmen aber gefühlte und reale Risiken wenig überein. Medien, Politiker und nicht zuletzt auch Ärzte sollten sich deshalb bemühen, hier Kongruenz statt Divergenz zu fördern.

Ein gutes Beispiel, wie es nicht laufen sollte, war die besonders im Winterhalbjahr 2005/06 forcierte Hysterie um die Vogelgrippe, kritisierte Professor Franz Porzsolt vom Lehrstuhl für Klinische Ökonomik der Universität Ulm auf einer Pressekonferenz des Komitees Forschung Naturmedizin e.V. in München. Wie der urspünglich aus der Onkologie kommende Wissenschaftler, der sich jetzt schwerpunktmäßig mit dem objektiven und subjektiven Nutzen unterschiedlichster diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen befaßt, ausführte, wurde in der betreffenden Saison mit nahezu konzertiert anmutenden Aktionen die Angst der Bevölkerung vor der Vogelgrippe geschürt.

Allgegenwärtige Medienpräsenz der Vogelgrippe

So verging kaum ein Tag ohne undifferenzierte Medienberichte von wieder und wieder tot aufgefundenen Vögeln. Während Experten noch heftig über Notwendigkeit und Sinn einer allgemeinen Stallpflicht für Hausgeflügel stritten, demonstrierte die Regierung voreilige Handlungsbereitschaft und verfügte befristet ein entsprechendes, für weitere Aufregung in der Bevölkerung sorgendes Gebot. Und am 7. März 2006 suggerierte der erste Vogelgrippe-Patient in der Sachsenklinik der beliebten Vorabendserie „In aller Freundschaft“ dem TV-Publikum, daß es jetzt langsam wirklich ernst wird mit der Vogelgrippe. Dabei war bis dato in ganz Europa kein einziger Fall von Vogelgrippe bei Menschen bekannt und nach Ansicht zahlreicher Seuchenexperten stehen die Chancen gut, daß es auch so bleibt.

Es braucht relativierendes Wissen

Anstatt mit möglichst sensationellen Schlagzeilen Unruhe in die Bevölkerung zu tragen, sollte relativierendes Wissen vermittelt werden, forderte Porzsolt und fuhr wieder am Beispiel der Vogelgrippe fort. Denn wem etwa bekannt ist, daß zu Zeiten des Vogelfluges Vögel schon allein erschöpfungsbedingt vermehrt und vieltausendfach sterben, wird nicht gleich jedes tot aufgefundene Federtier als Menetekel einer unmittelbar bevorstehenden Vogelgrippe-Pandemie werten. Und wer aufgrund seriöser Informationen verinnerlicht hat, daß es Vogelgrippen schon immer gab und virale Artensprünge eher die Ausnahme als die Regel sind, wird selbst dann noch die berechtigte Gelassenheit bewahren, wenn aufgefundene tote Vögel tatsächlich mit H5N1 oder einem anderen aviären Influenzavirus infiziert sind.

Ein unkalkulierbares Restrisiko, daß in näherer oder fernerer Zukunft ein Vogelgrippe-Virus beziehungsweise eine Verschmelzungsprodukt mit einem humanen Grippevirus tatsächlich eine Pandemie auslösen könnte, wollte auch Porzsolt nicht gänzlich ausschließen. Der Schrecken auch vor einer solchen Möglichkeit lasse sich jedoch relativierend abschwächen, wenn man den seriös prognostizierten Worst-Case-Pandemieszenarien die schon heute realen Konsequenzen vergleichsweise stoisch hingenommener alltäglicher Gesundheitsrisiken wie Überernährung, Bewegungsmangel und Rauchen gegenüber stellt.

Auch gefühlte Sicherheit darf ihren Preis haben

Der Mensch läßt sich jedoch nicht nur von unbegründeten Ängsten sondern oft auch von falschen Sicherheitsvorstellungen aufs Glatteis führen. So hält etwa beileibe nicht jede akzeptierte Vorsorgeuntersuchung, was sie auf den ersten Blick verspricht, sagte Porzsolt und verwies beispielhaft auf eine im März 2005 im British Medical Journal (BMJ) veröffentlichte australische Analyse von Alexandra Barratt et al. zum Nutzen eines generellen mammographischen Brustkrebsscreenings bei Frauen ab dem 40. Lebensjahr. Ein beeindruckender relativer Benefit bezüglich Mortalität und Morbidität entpuppe sich absolut betrachtet oft zu einem Benefit im kleinstelligen Promillebereich, der nicht nur mit millionenschweren Geldbeträgen sondern auch mit einer erheblichen Anzahl falsch positiver Befunde inklusive einer unnötigen invasiven Folgediagnostik oder nebenwirkungsträchtigen Therapien erkauft werden muß.

Wer nun allerdings glaubt, in Porzsolt einen entschiedenen Gegner wenig effizienter Früherkennungsmaßnahmen wie möglichst großzügigem mammographischem Brustkrebs- oder PSA-Screening vor sich zu haben, hat die Rechnung ohne die Komplexität der klinischen Ökonomik gemacht. Denn ins Kalkül dürfe nicht nur der objektive Nutzen, sondern müsse auch der subjektive Nutzen einer Maßnahme gezogen werden, so der Wissenschaftler. Dieser subjektive Nutzen könne auch bei einer ineffizienten Untersuchungsmethode erheblich sein und sie letztendlich rechtfertigen. Nämlich dann, wenn sie geeignet ist, bei vertretbarem Aufwand mit einem beruhigenden Ergebnis, das generell eher Regel als Ausnahme ist, überängstlich Besorgten die Angst vor einer befürchteten Krankheit zu nehmen und ihnen damit ein großes Stück gefühlter Sicherheit zu geben. Besser wäre allerdings, wenn in unserer Gesellschaft die Gesundheitsaufklärung bereits ein Stadium erreicht hätte, in dem gefühlte und reale Risiken in Einklang gebracht sind und somit fragwürdige Beruhigungsmanöver überflüssig werden.

                                                           W. Stingl


Kommentar

Gute Geschäfte mit gefühlten Risiken

Die Forderungen des klinischen Ökonomikers, für mehr Einklang zwischen gefühlten und realen Risiken zu sorgen, verdient ungeteilte Zustimmung. Ob diese Forderung aber tatsächlich Chancen auf rasche Verwirklichung hat, darf angezweifelt werden. Zu gut läuft das Geschäft mit realitätsfern überzogenen gefühlten Ängsten und Sicherheiten. Neben Versicherungen, Türschloßherstellern, Banken, religiösen Vereinigungen und vielen weiteren Branchen verdient selbstverständlich auch die Pharmaindustrie ganz gut daran. So hat etwa die Angst vor der gefühlten Gefahr Vogelgrippe in der Grippeimpfsaison 2005/06 mehr Menschen vor die Spritze getrieben als alle STIKO-Appelle der Vorjahre. Dabei würden die derzeit verfügbaren Impfstoffe weder gegen das Vogelgrippe-Virus noch gegen eine Chimäre dieses Virus mit menschlichen Influenzaviren helfen. Und glaubt man den im deutschen Medizinblätterwald erstaunlich ignorierten Ausführungen von Tom Jefferson – seines Zeichens immerhin Chefkoordinator des Fachbereichs Impfungen der internationalen Cochrane-Vereinigung – im British Medical Journal (BMJ) vom Oktober 2006, gibt es bislang keine überzeugenden Belege, daß die Grippeimpfung überhaupt etwas bringt außer enorme Kosten für das Gesundheitssystem und ebensolche Gewinne für die Impfstoffhersteller. Halt! Das kann gar nicht ganz stimmen. Denn selbst wenn sich Jeffersons Verdacht der Unwirksamkeit irgend wann bestätigen sollte, verleiht die Grippeimpfung den Impflingen bis dahin zumindest ein hohes Maß an gefühlter Sicherheit. Und die darf gemäß der Logik der klinischen Ökonomik ja auch etwas kosten, solange es nicht gelungen ist, weit verbreitete gemüterbelastende Irrungen in der Bevölkerung aufklärend auszumerzen.

                                                          W. Stingl

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