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SARS-COV-2/COVID-19

Ein "nerviges" Virus

Coronaviren verursachen nicht nur typische Atemwegserkrankungen. Neurologische Symptome wie Geruchs- und Geschmacksverlust und Kopfschmerz sind bei COVID-19 so häufig, dass sie als diagnostische Hinweise Beachtung finden sollten

Von den sieben bekannten humanpathogenen Coronaviren sind drei sicher neurotrop: HCoV-229E, HCoV-OC43 und SARS-CoV-1 infizieren auch Neuronen. Sars-CoV-1 bedient sich dabei wie auch das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 der Spike-Proteine, um an das Angiotensin-Converting Enzyme 2 (ACE2) von Zellmembranen anzudocken. Unter Mitwirkung einer Serinprotease verschafft sich das Virus dann Eingang in die Zelle. Der entscheidende ACE2-Rezeptor wird nun nicht nur von Epithelzellen der Atemwege exprimiert, sondern in vielen Geweben, wie Nieren, Darm, dem Gefäßendothel des gesamten Körpers und weithin auch im zentralen Nervensystem. Neuere Arbeiten wiesen ACE2 in der Substantia nigra, den Ventrikeln, dem Gyrus temporalis medius, dem posterioren Gyrus cinguli, dem Motorcortex, dem Bulbus olfactorius und der Medulla oblongata nach. Zelltypen, die ACE2 tragen, sind neben Neuronen die Microglia, Astrozyten und Oligodendrozyten. Die verbreitete Expression von ACE2 im Gehirn legt nahe, dass Sars-CoV-2 eine vergleichbare neurotrope Infektiosität besitzt wie sein enger Verwandter Sars-CoV-1, schreiben Forscher der Yale School of Medicine, New Haven, US. In JAMA Neurology geben sie eine Übersicht über Infektionswege von Coronaviren, ihre Zielgewebe und resultierende Symptome
Unter den neurologischen Symptomen, die früh im Verlauf der COVID-19-Pandemie berichtet wurden, imponierten der isolierte Verlust von Geruchs- und/oder Geschmackssinn, typischerweise ohne Schwellung der Schleimhäute wie bei einer Rhinitis. Die Angaben zur Häufigkeit der Anosmie schwanken in Berichten aus China, Italien und Deutschland zwischen fünf und 88%. Vier von fünf COVID-Patienten mit Anosmie konnten auch nichts mehr schmecken, ohne dass bei ihnen eine nasale Kongestion bestand. Das gezielte Abfragen dieses Syndroms könnte nach Meinung der US-Autoren einer frühen COVID-19-Diagnose den Weg weisen.

Anosmie und Ageusie

Als Pathomechanismus für den sensorischen Verlust wird zum einen die transsynaptische Virenwanderung diskutiert, wie sie schon für andere Coronaviren gezeigt worden ist: Sars-CoV-2 könnte direkt entlang der olfaktorischen Nervenfasern durch das Siebbein hindurch zum Riechkolben wandern. Indes wurde an den Riechneuronen keine ACE2-Expression nachgewiesen. Daher wird auch eine Infektion des umgebenden olfaktorischen Stützgewebes diskutiert, welches ACE2 exprimiert. Ursächlich für den Verlust des Geruchssinns wäre damit keine neuronale, sondern eine Epithelschädigung.

Kopfschmerzen durch Neuroinflammation?

Neben Fieber, Husten, Halsschmerzen und Kurzatmigkeit zählen Kopfschmerzen zu den häufigsten frühen Beschwerden bei COVID-19. In verschiedenen Berichten sind bis zu einem Drittel der diagnostizierten Patienten betroffen. Pathophysiologisch erscheinen neuroinflammatorische Mechanismen plausibel. Es ist bekannt, dass Makrophagen in verschiedenen Stadien der Sars-CoV-2-Infektion Zytokine und Chemokine freisetzen, die u.a. nozizeptive sensorische Neuronen reizen. Die Autoren mahnen nachdrücklich, an COVID-19 zu denken, wenn Kopfschmerzen beim Patienten neu auftreten, bekannte Kopfschmerzen sich verändern oder auf die gewohnte Behandlung nicht ansprechen, insbesondere im Kontext systemischer Symptome wie Fieber.

Bewusstseinstrübung durch Zytokinsturm?

Kennzeichnend für eine Enzephalopathie sind Erregung, Verwirrung, Lethargie, Delirium oder Koma. In einer Studie mit 214 Patienten in Wuhan, China, erlitten 15% der schwer erkrankten, hospitalisierten Patienten derartige Bewusstseinseintrübungen, bei leichter Erkrankung nur 2,4% . Für eine Enzephalopathie prädisponieren an sich zahlreiche Risikofaktoren wie höheres Alter, kognitive Beeinträchtigungen, Multimorbidität, Mangelernährung und Infektionen, Elektrolytstörungen, Nieren- und Leberdysfunktion sowie Hypo- und Hyperglykämie. Schwere Verläufe von COVID-19 bringen möglicherweise entscheidende Auslöser für eine toxisch-metabolische Enzephalopathie mit sich. Denn sie sind charakterisiert durch einen „Zytokinsturm" mit massivem Anstieg von Interleukinen (IL-2, IL-6, IL-7), Tumornekrosefaktor-alpha (TNF-a), Granulozyten-Kolonie-stimulierenden Faktor (G-CSF) und weiteren Entzündungsmediatoren.
Die systemische Inflammation erhöht die Permeabilität der Blut-Hirnschranke. Nicht nur Zytokine, auch mit Sars-CoV-2 infizierte Leukozyten können dann als „trojanische Pferde" ins ZNS gelangen. Dieser Mechanismus ist für HI-Viren gut beschrieben. Für Sars-CoV-1 ist eine Infektiosität für Lymphozyten, Granulozyten und Monozyten belegt, die alle ACE2 exprimieren. Dass Sars-CoV-2 sich ähnlich verhält, ist aus Sicht der Autoren anzunehmen; trotzdem gebe es bislang bis auf Einzelfälle keine belastbaren Hinweise, wonach das neue Coronavirus eine virale Enzephalitis auslöst.
Chinesische Mediziner haben bereits Anfang Februar Covid-19-Patienten mit schweren entzündlichen Reaktionen neben der Standardtherapie mit dem monoklonalen Antikörper Tocilizumab behandelt. Er blockiert den IL-6-Rezeptor, was die Entzündungskaskade bei massiver Zytokinausschüttung abmildert. Bei allen 20 behandelten Patienten normalisierte sich das Fieber bereits nach einem Tag, bei 16 Patienten sanken das CRP und der Sauerstoffbedarf signifikant, die Patienten erholten sich binnen 15 Tagen . Tocilizumab penetriert kaum ins ZNS, kann aber selbst Kopfschmerzen und Schwindel hervorrufen. Randomisiert-kontrollierte Studien mit Interleukin-Inhibitoren stehen aus.

Mehr Anfälle bei Epilepsie

Bewusstseinstrübungen durch Krampfanfälle sind bei Infektionen mit anderen Coronaviren als Sars-CoV-2 berichtet worden. Eine Auswertung bei 304 COVID-19-Patienten dokumentierte lediglich zwei anfallsähnliche Ereignisse, nahm aber keine genauere Überprüfung durch EEG oder Bildgebung vor. Generell ist zu bedenken, dass auf Intensivstationen ungeachtet des Verlegungsgrundes etwa jeder zehnte Patient subklinische Anfälle erleidet. Gefährdet durch höhere Anfallsfrequenz und einen Status epilepticus erscheinen bei schweren Infektionen vor allem Patienten mit vorbestehender Epilepsie, was die Autoren mit eigenen Erfahrungen untermauern. In ihrer neurologischen Klinik an der Yale School of Medicine beobachteten sie gehäuft Durchbruchsanfälle bei Epilepsiepatienten nach einer Infektion mit Sars-CoV-2.

Berichtet werden bei COVID-Patienten auch Fälle von Guillain-Barré Syndrom (GBS) und peripheren Nervenstörungen, so fünf Fälle von GBS in Italien. Symptome wie Schwäche der Beine und Parästhesien entwickelten sich fünf bis zehn Tage nach dem Beginn der COVID-Symptomatik. Der neuronalen Dysfunktion liegt vermutlich eine Kreuzreaktion von gegen Sars-CoV-2- gebildeten Antikörpern mit peripheren Nervenstrukturen zugrunde.

Schlaganfall und vaskuläre Ereignisse

In der o.g. Wuhan-Studie (2) erlitten 5% der hospitalisierten Patienten einen Schlaganfall (11 ischämisch, 1 hämorrhagisch, 1 Sinusvenenthrombose). Die Patienten waren gekennzeichnet durch kardiovaskuläre Riskofaktoren, höheres Alter, schweren Verlauf von COVID und insbesondere durch höhere Level von CRP und D-Dimeren. D-Dimere zeigen als Abbauprodukte des Fibrins unspezifisch eine Gerinnungsaktivierung an. Auch nach anderen Studien sind die bei schweren COVID-Verläufen beobachtetete Hyperkoagulapathie und die erhöhten Inflammationsmarker maßgebliche Treiber des Schlaganfallsrisikos. Eine jüngst in Lancet publizierte Arbeit beschreibt die direkte virale Infektion von Endothelzellen in Gefäßen von Lungen, Nieren und Darm durch Sars-CoV-2 mit Zeichen von Entzündung. Die „COVID-19-Endotheliitis" bedinge eine gestörte Mikrozirkulation, Ischämie und Gerinnungsneigung .

Neurologische Patienten und ihre Medikation

Einige neurologische Erkrankungen bzw. ihre Therapien können ein höheres Risiko für schwere COVID-Verläufe beinhalten. Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose, Myasthenia gravis, Autoimmun-Enzephalitis, Neuromyelitis optica, Vaskulitis, Sarkoidose, Guillain-Barré-Syndrom werden häufig mit immunsuppressiven oder immunmodulatorischen Medikamenten therapiert. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) warnt davor, eine gut eingestellte krankheits-modifizierende Therapie aufs Spiel zu setzen; zur Nutzen-Risiko-Abwägung bei exponierten Patienten mit weiteren Corona-Risikofaktoren wie hohes Alter, Aufenthalt im Pflegeheim, Diabetes und Gefäßerkrankungen hat die Klinischen Kommission „Neuroimmunologie" der DGN schon Ende April eine Stellungnahme veröffentlicht.

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