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Birgit Matejka Werner Stingl Ralf Schlenger Dr. Ina Schicker Dr. Ulrich Scharmer

Wo sind Grippe und Schnupfen geblieben?

 Wohl als Konsequenz der Corona-Schutzmaßnahmen, ist in diesem Winter die Zahl der Grippe- und Erkältungspatienten auf ein historisches Tief gesunken. Was man daraus folgern kann – und was nicht.

 1992 wurde von vier pharmazeutischen Unternehmen und dem Deutschen Grünen Kreuz die Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) gegründet. Seit 2009 leitet das Robert-Koch-Institut alleinverantwortlich diese Einrichtung der nationalen Grippeüberwachung.

 

533 versus über 180.000 laborbestätigte Grippefälle

Seitdem die AGI ab 1992 die Grippehäufigkeit systematisch erfasste, hat es in Deutschland – wie auch in vielen anderen Ländern der Nordhalbkugel - noch nie annähernd so wenige Patienten mit „echter“ Grippe gegeben wie im Winterhalbjahr 20/21. Gerade mal 533 laborbestätigte Influenzafälle hat die AGI bis 23. April 2021 dokumentiert. Zwar dauert die Anfang Oktober beginnende Grippesaison offiziell noch bis Mitte Mai, doch viel mehr werden es aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr werden. Zum Vergleich: Für die beiden vorangegangenen Grippesaisonen wurden je über 180.000 labormedizinisch bestätigte Influenzafälle gemeldet und in der außergewöhnlichen Grippewelle der Saison 2017/18 über 330.000. Zwar ist sowohl für dieses Jahr als auch für die Vorjahre von einer erheblichen Dunkelziffer auszugehen, doch die Relationen dürften in etwa gleich bleiben.

Auch die Zahlen der mit einer laborbestätigten Grippe assoziierten Todesfälle spiegeln die diesmal praktisch ausgebliebene Grippewelle wider. Während RKI-Angaben zufolge in dieser Saison bislang (Stand 23. April 2021) lediglich 13 Menschen infolge einer laborbestätigten Influenza gestorben sind, waren es in den Vorjahren fast immer mehrere Hundert und während der schweren Grippewelle 2017/18 immerhin rund 1700.

Um Irritationen vorzubeugen: die immer wieder zu lesende durchaus plausible Zahl von tatsächlich 25.000 Grippetoten während der schweren Grippesaison 2017/18 beruht auf der erfassten Übersterblichkeit in dieser Zeit und damit auf einer anderen Erhebungsgrundlage, die der hohen Dunkelziffer Rechnung tragen will.

 

Auch banale Atemwegsinfekte im Tief

Doch nicht nur die manchmal selbst bei jüngeren Menschen schwer verlaufende echte Grippe (Influenza) sondern auch banale virale Atemwegsinfekte mit Schupfen, Husten und/oder Heiserkeit bewegten sich in der diesjährigen Erkältungssaison auf niedrigstem Niveau, wie die ebenfalls von der AGI am RKI erstellte wöchentliche ARE-Statistik für Deutschland zeigt. ARE steht für „Akute Respiratorische (= die Atemwege betreffende) Erkrankungen“. In dieser Statistik werden neben Infektionen mit Influenza-Viren und dem neuen Coronavirus auch die wesentlich harmloseren aber viel häufigeren Atemwegsinfekte durch übliche Erkältungsviren erfasst. Hochrechnungsgrundlage sind die regelmäßigen Erkältungssymptom-Mitteilungen von mehreren tausend Menschen, die sich als „ständige Stichprobe“ für das GrippeWeb der AGI registriert haben sowie Meldungen von mehreren hundert niedergelassenen so genannten Sentinel (Wächter)-Arztpraxen.

Obwohl die ARE-Statistik Zuwachs durch Infektionen mit dem neuen Coronavirus, die überwiegend eben auch als akute Atemwegsinfektionen gezählt werden, bekam, lag der Kurvenverlauf der Aktivität aller akuten Atemwegsinfektionen in der Erkältungssaison 2020/21 stets - und streckenweise sehr weit - unter dem der Vorjahre(https://influenza.rki.de/Wochenberichte/2020_2021/2021-16.pdf).

 

Einbruch bei Erkältungsmitteln

Wenig überraschend, untermauert ein Absatzeinbruch bei Erkältungsmitteln den Rückgang von Erkältungen. Wie die Tagesschau am 8. März 2021 in einem Onlinebericht mitteilte, mussten die deutschen Apotheken für die ersten drei Quartale des Jahres 2020 gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres bei Erkältungsmitteln einen Schwund um 13 Prozent hinnehmen. Der Höhepunkt des Schwundes war aber in den ersten drei Quartalen 2020 noch gar nicht erreicht, wie etwa eine eigene Statistik des Dachauer Apothekers Dr. Thomas Bayer nahe legt. Bayer hatte die Haupterkältungsmonate November, Dezember, Januar und Februar fokussierte. Im Vergleich zu dieser Periode der Vorsaison erlebte Bayer in der aktuellen Saison bei den vier am häufigsten nachgefragten Erkältungsmitteln ein Absatzminus von 77 Prozent. Um falschen Schlüssen vorzubeugen: Aus Sorge vor Engpässen gehamstert wurde erst ab März 2020, weshalb bis Februar 2020 von einer davon noch unbeeinflussten Nachfrage auszugehen ist. Dagegen könnten in der offiziellen landesweiten Apothekenstatistik Hamstereffekt durchaus dazu geführt haben, dass der Einbruch 2020 gegenüber 2019 weniger dramatisch war als es die gesunkene Erkältungshäufigkeit erwarten ließ.

 

Die Gründe

In der Hauptantwort auf die Frage nach den Gründen für den deutlichen Rückgang aller viralen Atemwegsinfektionen einschließlich Grippe in Corona-Zeiten herrscht in Medizin- und Wissenschaftskreisen weitgehend Einigkeit. Offensichtlich schützen die zur Abwehr einer Infektion mit dem neuen Coronavirus Sars-CoV-2 eingeleiteten Maßnahmen wie insbesondere Aussetzen von Großveranstaltungen, Homeoffice, sonstige Kontaktbeschränkungen, Abstand, Handhygiene und Masken auch vor anderen Atemwegsviren. Das ist durchaus plausibel, zumal sämtliche Atemwegsviren einschließlich Sars-CoV-2 und Influenza den gleichen Infektionswegen folgen.

Nachrangig kommen noch weitere Erklärungen infrage. So ist denkbar, dass so mancher Erkältete aus Angst, sich in Arztpraxis oder Apotheke noch zusätzlich eine Corona-Infektion einzufangen, diese Orte gemieden hat und deshalb der Statistik verborgen geblieben ist. Auch mag der eine oder die andere eine Erkältung versteckt haben, um einem sonst möglicherweise geforderten Coronatest mit eventuell folgender Quarantänepflicht auszuweichen.

Speziell was die Grippe-Reduktion betrifft, könnte die aus Sorge vor einer Influenza-Corona-Doppelinfektion vorangetriebene etwas stärkere Inanspruchnahme der Grippeschutzimpfung einen Betrag geleistet haben. Das nahezu komplette Ausbleiben der Grippe lässt sich damit aber nicht annähernd erklären.

 

Fraglicher Umkehrschluss

Wenn nun tatsächlich das Ausbleiben der Grippewelle und der ebenfalls eindrucksvolle Rückgang gewöhnlicher Erkältungskrankheiten höchstwahrscheinlich vor allem den Corona-Schutzmaßnahmen zu verdanken sind, ist das doch wohl tatsächlich ein überzeugender Beleg für die Wirksamkeit zumindest einiger dieser Maßnahmen gegen jegliche Ansteckung mit Atemwegsviren. Könnte man somit im Umkehrschluss folgern, dass ohne die neu etablierten Schutzmaßnahmen nicht nur Grippe- und Erkältungskrankheiten auf gewohntem Niveau stattgefunden hätten sondern mit einem entsprechenden Steigerungsfaktor auch ein Mehr an Coronainfektionen und –opfern hinzunehmen gewesen wäre? Der Schluss scheint plausibel, ist aber dennoch nicht zwingend. Denn womöglich hat gerade der Wegfall der sonst häufigeren Grippe sowie der banalen Erkältungskrankheiten, die nahezu jeden Menschen üblicherweise ein bis mehrmals im Jahr ereilen, dem neuen Coronavirus so manche Infektion sogar erleichtert. Wie das?

Um den hier notwendigen virenökologischen Gedankengang leichter verstehen und akzeptieren zu können, erlauben Sie bitte einen kleinen Rückblick auf ein Ereignis, das als Paradebeispiel für die fatalen Konsequenzen ökologischer Ignoranz in die Geschichte eingegangen ist.

 

Maos Spatzenkrieg

1958 ordnete der große chinesische Revolutionär und Staatslenker Mao Zedong im Zuge der Kampagne „Ausrottung der vier Plagen“ an, neben Fliegen, Stechmücken und Ratten auch möglichst alle Spatzen des Landes auszumerzen. Denn, so der ökologisch unbedarfte Diktator, die abermillionen Vögel fräßen jedes Jahr viele Tonnen von Getreide und schmälerten damit die Nahrungsmittelversorgung der chinesischen Menschen. Unter Einsatz der gesamten Bevölkerung wurden Spatzen und als Kollateralschaden wohl auch andere Vögel flächendeckend bis zum Erschöpfungstod in die Luft gescheucht, erschlagen, mit Leimruten und Fallen gefangen, mit Steinschleudern abgeschossen sowie ihre Nester zerstört. In den ersten drei Tagen der Aktion soll laut eines Spiegel Online-Berichts vom 16. März 2020 400.000 Spatzen der Garaus gemacht worden sein, in der Folgezeit insgesamt bis zu zwei Milliarden. Dieser „Erfolg“ führte jedoch keineswegs zu größeren Ernten, sondern zur berüchtigten dreijährigen Hungersnot, der vorsichtigen Schätzungen zufolge von 1959 bis 1961 25 Millionen Chinesen erlegen sind. Befreit von ihren gefiederten Verfolgern, hatten sich Wanderheuschrecken explosionsartig vermehrt. Und die begnügten sich nicht wie die fleißig auch Insekten verzehrenden Vögel mit einem vergleichsweise kleinen Obolus an der Getreideernte, sondern sie fraßen vom Keimling bis zur Frucht nahezu sämtliche Pflanzen, mit denen sich Menschen und Nutztiere ernährten.

Maos Spatzenkrieg und seine Folge zeigen auf eindrucksvolle Weise, wie die unüberlegte Wegnahme eines scheinbaren Übels ein weit schlimmeres nach sich ziehen kann. Agieren wir im Kampf gegen Viren im Allgemeinen und gegen das neue Coronavirus im Speziellen ein bisschen wie Maos Spatzenkrieger?

 

Verlust an Kreuzimmunität …

Etwa 15 Prozent aller gewöhnlichen Erkältungskrankheiten werden bei uns durch vier Coronavirus-Arten hervorgerufen, die schon lange in der Bevölkerung zirkulieren und die für Menschen wesentlich harmloser sind als das neue Coronavirus. Dabei unterstützen aktuelle Studienergebnisse, zuletzt etwa die einer Arbeitsgruppe der Universität Münster, Vorstellungen, wonach Infektionen mit diesen harmlosen Coronaviren im Sinne einer Kreuzimmunität einen gewissen Schutz vor zumindest einer schwer verlaufenden Infektion mit dem neuen Coronavirus bieten. Immunologischen Gesetzmäßigkeiten folgend, dürfte dieser Schutz umso ausgeprägter sein, je weniger weit die potenziell kreuzimmunisierenden Infektionen zurück liegen und je öfter sie einen Menschen bereits ereilt haben. Ein markanter Rückgang von Bagatellinfektionen mit alten Coronaviren im Verlauf des letzten Jahres könnte also dazu geführt haben, dass die noch ungeimpfte Bevölkerung für das neue Coronavirus inzwischen sogar anfälliger geworden ist als sie es zu Beginn der Pandemie war. Und sie könnte weiter umso anfälliger werden, je stärker und länger man die vergleichsweise harmlosen kreuzimmunisierenden alten Coronaviren unterdrückt.

 

… und unspezifischem Schutz

Versuchen verschiedene Virusarten einen Körper als Brutmaschine zu entern, tun sie das oft weniger als Allianz denn vielmehr in Konkurrenz zueinander. Besonders wenn sie als Ziel gleiche Zelltypen anvisieren, erschweren unspezifische Abwehrmechanismen, die der Körper bereits gegen die einen Viren aktiviert hat, das erfolgreiche Eindringen der anderen. Ein bekannter solcher Abwehrmechanismus ist die verstärkte Freisetzung antiviraler Interferone im Verlauf einer akuten Infektion und für noch kurze Zeit danach.

In den Atemwegen konkurrieren harmlose Erkältungsviren, Grippeviren und auch das neue Coronavirus um die gleichen Zielzellen. Da  unterschiedliche Bagatell-Atemwegsviren insgesamt um ein Vielfaches verbreiteter sind als Influenza- oder neue Coronaviren, stehen die Chancen gut, dass erstere schon in den Atemwegen gelandet sind bevor ihre für uns gefährlicheren Konkurrenten ihren Angriffsversuch starten und der genau deshalb scheitert oder zumindest schwächer ausfällt.

 

Rostet was rastet?

Dass es sich dabei nicht nur um graue Theorie handelt, wurde in den letzten Jahren zumindest für die Grippe bereits in klinischen Studien mit größeren Patientenkollektiven nachgewiesen. Menschen, die akut an einem von Rhinoviren ausgelösten Schnupfen litten oder einen solchen kürzlich überstanden hatten, erkrankten deutlich seltener als Menschen ohne eine entsprechende harmlose Vorgeschichte an einer Grippe. Dass Schnupfenviren nach dem gleichen Prinzip auch gegen Infektionen mit dem neuen Corona-Virus schützen könnten, liegt nahe, wurde bisher aber nur in Zellkulturexperimenten bestätigt. Erste Befunde, ob und inwieweit sich auch Influenzaviren und das neue Corona-Virus wechselseitig behindern, sind noch unzureichend und widersprüchlich.

Nicht ganz korrekt aber einfacher, könnte man das im Vorangegangenen kritisch Erörterte auch so betrachten: Offensichtlich braucht ein Immunsystem auch zur Virenabwehr Training und es ist durchaus plausibel, dass es an Schlagkraft verliert, wenn wir es zu stark und zu lang von koevolutionär bewährten Sparringspartnern abschirmen. Daran sollten vor allem auch jene denken, die damit liebäugeln, Teile der Corona-Schutzmaßnahmen als neue Mittel der generellen Atemwegsinfektprävention selbst dann noch fortzuführen, wenn die aktuelle Coronakrise bereits überwunden ist.

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